Diagnose Weihnachtsphobie?! 7 Ideen, wie du die Festtage auch mit Ängsten gut überstehst

“Ich halte es nicht aus, wenn ich Weihnachten wieder so tun muss, als wäre alles Friede, Freude, Eierkuchen”, sagte eine meiner Klient:innen neulich. “Und dass alles immer so laufen muss, wie es sich die anderen vorstellen”, fügte sie hinzu. Eine andere Klientin verglich das Weihnachtsessen in ihrer Herkunftsfamilie mit einem Verhör. Für eine weitere Klientin mit Agoraphobie ist die stundenlange Fahrt zu ihren Verwandten im Zug die größte Herausforderung.

So ähnlich geht es vielen anderen: Schon der Gedanke an die Feiertage ist Anlass für Stress, Sorgen und Ängste. Vor allem, wenn die Lebenssituation gerade schwierig ist. Sei es nach schmerzhaften Trennungen, nach dem Tod eines geliebten Menschen oder weil Ängste oder andere psychische Themen im Spiel sind. Die Angstauslöser sind sehr unterschiedlich: Während die einen Probleme mit den mehr oder weniger unfreiwilligen sozialen Verpflichtungen haben - inkl. Essen, Bescherung, Gespräche etc. - haben andere Sorgen vor der an diesen Tagen besonders spürbaren Einsamkeit.

Hier erwartet dich ein kleines Sammelsurium an Gedanken, Ideen und Übungen sowie inspirierender und hilfreicher Links, wie du mit Ängsten und Sorgen rund um Weihnachten gut umgehen kannst. Für Einsame, Sozialphobiker:innen, Ängsthäs:innen…für alle, die gut vorbereitet sein wollen und auch damit umgehen können, wenn es doch ganz anders kommt.

1 Mach dir und deiner Angst ein Geschenk

Eine Idee für Fortgeschrittene in Sachen Selbstreflexion: Du hast angefangen, dich mit deiner Angst auseinanderzusetzen und übst dich darin, sie zu akzeptieren? Dann sei ruhig mal stolz auf dich und darauf, was du dieses Jahr angepackt und schon geschafft hast! Und wie wäre es, wenn du auch deiner Angst ein kleines Geschenk machst? Schreib ihr/ihm eine kleine Weihnachtskarte, in der du ihr/ihm deine Gedanken mitteilst. Oder: Male ihr/ihm ein Bild, schreibe ein Gedicht - lass deiner Kreativität freien Lauf. (Weitere Ideen, wie du lernst, deine Angst anzunehmen findest du hier.)

Und hier ein Video über mein Verhältnis zu Weihnachten oder an welche Erlebnisse ich mich in Verbindung mit Weihnachten gerne und nicht so gerne erinnere:

2 Nimm den Druck raus und lass alle deine Gefühle zu

Oft meldet sich gerade wenn’s um Weihnachten geht unser inneres Kind. “Weihnachten darf nicht gestritten werden, alle sollen sich lieb haben”, sagt es. Oder: “An Weihnachten muss die ganze Familie zusammen sein.” Viele verbinden mit Weihnachten sehr kindlich geprägte Vorstellungen davon, wie Familie zu sein hat. Bilder von der heilen Familie, von der klassischen Mama-Papa-Kind-Idylle oder einem hippiesk-harmonischen Patchwork-Miteinander sind prägend und erhöhen vor allem eins: Den Druck. Und zwar für alle Beteiligten, denn wenn viele Familienmitglieder zusammenkommen, hat eben jede:r seine/ihre Glaubenssätze, Ängste und Hoffnungen im Gepäck. Alle stehen unter dem Druck, es richtig zu machen, bloß nicht gegen Regeln zu verstossen, Gefühle zu unterdrücken, sich zurückzuhalten oder von allen gemocht zu werden etc. Hinzukommt, wenn du nach Hause kommst, bist du dort auch sofort wieder “die jüngere Schwester”, “das schwarze Schaf” etc. Die Rolle, die du damals im Familiengefüge gespielt hast, wirst du in der Regel so schnell nicht los.

Mach dir klar, dass es vermutlich nicht nur dir so geht, sondern auch den anderen in der Runde. Jede:r reagiert anders auf Druck oder zeigt ihre/seine Gefühle auf unterschiedliche Art und Weise. Jedes deiner Gefühle gehört zu dir und ist ok. Dasselbe gilt für die anderen und ihre Gefühle.

Anregung: Was sind deine Glaubenssätze in Bezug auf Weihnachten? Schreib sie auf und überprüfe ehrlich, ob sie heute immer noch für dich Sinn machen. Wenn du magst, formuliere neue Glaubenssätze, die hier und jetzt für dich funktionieren.

3 Mach dir einen Plan und baue kleine Auszeit-Rituale ein

Gemeinsam kochen, essen und trinken, Gespräche, Spaziergänge, Gesellschaftsspiele, Musik machen, Fernsehen usw. Bei so viel geballter Gemeinsamkeit ist der Lagerkoller vorprogrammiert und hierfür musst du nicht einmal eine soziale Phobie haben oder vielleicht hochsensibel sein. Deswegen überlege dir schon im Vorfeld, wieviel Zeit mit deinen Verwandten/Freunden du dir überhaupt vorstellen kannst. Baue dir von vorneherein Zeiten ein, in denen du mal alleine bist (Sport, Yoga, Telefonat, Meditation, Spaziergang, Mittagsschlaf etc.) Wenn du dir genug Me-Time gönnst, bist du meistens danach wieder familienkompatibler und das Streitrisiko sinkt. Der Grund: Wenn du regelmässig mit dir alleine bist, lernst du dich besser kennen, bist im Kontakt mit dir. Das wirkt sich wiederum positiv auf dein Umfeld aus. Und wenn du das Gefühl hast, dass die Menschen um dich herum damit umgehen können, sprich es ruhig an und sag, dass dir alles schnell zu viel wird und du immer mal wieder Ruhe für dich brauchst.

4 Traut euch und werdet gemeinsam kreativ

Ich habe vor Kurzem an einem mehrtägigen Seminar zum Thema Gruppendynamik teilgenommen. Was die etlichen kreativen Übungen anging, war ich zunächst sehr skeptisch…vermutlich weil ich immer skeptisch bin, wenn es um Gruppenprojekte geht. Aber, was soll ich sagen: Ich wurde eines Besseren belehrt. Denn es war nicht nur so, dass die Übungen und Spiele Spaß gemacht haben, sondern sie waren unglaublich hilfreich. Gemeinsam aktiv zu werden und etwas zu gestalten, hat mir geholfen, neue Perspektiven zu gewinnen - auf mich und die Gruppe. Weihnachten wird ja gerne mal gespielt…also wenn du dich traust, probiert doch mal die folgende Übung aus:

Übung Team/Family Paint

(Hierfür brauchst du einen DIN A 4-Zeichenblock, möglichst viele Bunt- oder Wachsmalstifte und Tesafilm)

  • Jede:r malt ein Bild, möglichst intuitiv, und hält darauf fest, wie er/sie sich gerade (in der Gruppe) fühlt. Es kommt nicht darauf an, dass du gut oder schön oder sonstwie toll malen kannst - es kommt lediglich darauf an, intuitiv zu malen. (15 Min.)

  • Dann legen alle ihre Bilder aus und es tun sich jeweils zwei zusammen, deren Bilder sich am ähnlichsten sind. Klebt eure zwei Bilder zu einem zusammen und verbindet sie malend, so dass es aussieht, als wäre es schon immer eins gewesen. (10 Min.)

  • Im nächsten Schritt tut ihr euch wieder mit einem Zweier-Team zusammen, dessen Bild eurem am ähnlichsten ist, klebt sie zusammen und verbindet malerisch sie zu einem. (15 Min.)

  • Je nachdem wie groß die Gruppe ist, wird dieser Schritt wiederholt, so dass am Ende ein großes Bild entsteht, an dem alle mitgewirkt haben. Wichtig ist noch, in welcher Form das große Bild zusammengeklebt wird. Erst, wenn es für alle stimmig ist, wird es zu einem großen Ganzen zusammengeklebt.

  • Wichtig für die Wirkung: Im Anschluss tauscht ihr euch aus, wie es für euch war, von einem Bild zum Gemeinschaftswerk zu kommen, welche Schritte besonders schwierig schön oder krass für dich waren. Was hat dieser Prozess mit dir gemacht? Was ist dir aufgefallen? Etc.

  • Wenn ihr mögt, sucht einen passenden Platz für euer Bild aus!

So sah unser gemeinsames Werk übrigens zwischenzeitlich aus…

5 Was du tun kannst, bevor es eskaliert

Gerade wenn an den Feiertagen neben dem Stress und Druck vielleicht Alkohol, Süßes und ungewohnt viel Kaffee im Spiel sind, kann ein Gespräch schon Mal schnell eskalieren. Jemand sagt etwas, das den anderen triggert und schon befindet ihr euch in einer Spirale der Eskalation, die in einem handfesten Familieneklat enden kann. (Alles schon selber erlebt: Ich erinnere mich an ein Silvester, an dem ein Streitgespräch dafür sorgte, dass einzelne Familienmitglieder noch am Silvesterabend wieder zu sich nach Hause aufbrachen - 600 Kilometer mit dem Auto!)

Wenn du merkst, dass die Stimmung hitziger wird, überlege dir persönlich, ob es dir das wirklich wert ist, in diesen Kampf zu ziehen. Wenn nicht, verlasse die Situation indem du den Raum wechselst, jemanden anrufst, an die Luft gehst etc.

Wenn Konflikte aufbrechen, liegen dahinter meistens verletzte oder unerfüllte Bedürfnisse. Das ist wichtig zu wissen, denn wenn du erkennen kannst, welches Bedürfnis deines Gegenübers gerade nicht gesehen wird, kannst du es dahingehend abholen. Welches Bedürfnis könnte es sein? Wenn du auch nur eine Ahnung hast, stell eine Frage anstatt zu bewerten. Zum Beispiel: “Ich habe das Gefühl, dass du dich hier irgendwie übergangen fühlst?”

Versuche, mit deiner Körpersprache, deiner Mimik und Gestik Ruhe auszustrahlen. Lehn dich zurück, atme durch und sage einfach mal nichts - und warte ab.

Vermeide Du-Botschaften und vorwurfsvolle Wörter wie “immer”. Formuliere deine Standpunkte, Gedanken oder Gefühle stattdessen aus deiner Perspektive, also in Form von Ich-Botschaften.

Und vergiss nicht: Konflikte sind nicht per se negativ und zu vermeiden. Manchmal müssen sie sein, damit ihr in eurer Beziehung weiterkommt. Und wenn das an Weihnachten ist, tja, dann ist das halt so. Ich erinnere mich daran, dass mir eine Freundin davon berichtete, dass sie in ihrer Familie Weihnachten einmal alle geweint hätten, weil sie sich alle sehr offen und ehrlich von früheren Verletzungen erzählt hatten. Am nächsten Tag waren alle erleichtert und fühlten sich einander so nah wie selten zuvor, laut meiner Freundin. Ihr Fazit: Es war ein sehr aufwühlendes, tiefes und verbindendes Weihnachten.

P.S. Noch ein Wort zum Thema Alkohol: Für Menschen mit Ängsten / Angststörungen ist Alkohol geradezu verlockend, weil er eine angstlösende Wirkung hat. Doch leider kann zu viel Alkohol am nächsten Tag Hangxiety verursachen, also einen Kater plus Panikattacken.

Und hier noch die aktuelle Folge von Feel the News - ein Podcast von Sascha und Jule Lobo, den ich sehr gerne höre und weiterempfehlen kann:

6 Humor als Ressource

Ich habe schon einige Weihnachten erlebt, an denen mir nicht einmal mehr nach Humor zumute war. Familienfeiern, bei denen die Fronten derart verhärtet waren, dass Humor keine Lösung mehr war. In dem Moment nicht. Wenn die Situation allerdings noch nicht so angespannt ist, tut Humor gut - als Bewältigungsstrategie, um mit herausfordernden Settings einfach gelassener umzugehen. Dann hilft der Blick von außen, vom Zuschauerraum aus - wenn du dir das, was gerade passiert als Theaterstück vorstellst oderso. Und Humor fängt übrigens bei dir selber an: Wenn du es schaffst, dich selber nicht so ernst zu nehmen, verhilft dir das zu mehr Toleranz, dir und anderen gegenüber. (Die Insta-Videos sollen übrigens kleine Humor-Schmankerl sein…aber ja, Humor ist natürlich eine sehr individuelle Angelegenheit und vielleicht findet ihr die Videos gar nicht so komisch wie ich…Aber ja, damit kann ich leben…und ihr hoffentlich auch.)

7 Wie du mit Einsamkeit umgehen kannst

“Einsamkeit ist auf Dauer so gefährlich für die Gesundheit wie Alkohol”, sagte der Psychiater und Einsamkeitsforscher Dr. Matthias Reinhard vor Kurzem in einem Interview mit der Radiowelt auf Bayern2. Dieser Satz ist bei mir kleben geblieben. Einsamkeit steht nicht umsonst neuerdings auf der Agenda des Bundesgesellschaftsministeriums, denn es ist ein ernstzunehmendes Thema, das Studien zufolge 12 % der Bevölkerung betrifft und schwerwiegende gesundheitliche Folgen nach sich ziehen kann. Ernst sollten wir es nicht nur an Weihnachten nehmen. Doch Weihnachten fühlen sich Menschen, die einsam sind, eventuell noch einsamer. Während sie einsam und alleine zuhause sind, feiert gefühlt der Rest der Welt in Familie friedlich und glückselig miteinander das Fest der Liebe. Auch wenn dem nicht so ist und ich mich übrigens auch schon in Gesellschaft an Weihnachten einsamer denn je gefühlt habe, ist die Frage, wie du mit deiner Einsamkeit umgehen kannst.

So vielfältig die Ursachen von Einsamkeit sein können, sind auch die Phasen bez. die Intensität von Einsamkeit bis hin zu chronischer Isolation. Fühlst du dich gerade einsam, weil du eine Trennung hinter dir hast? Oder verlässt du aufgrund einer psychischen Krankheit kaum noch deine Wohnung? Ist deine Einsamkeit gerade in gewisser Weise selbst gewählt oder ist sie die Folge von anderen Faktoren wie deinem Alter, deiner Gesundheit, deiner Herkunft, deines sozialen Status etc.?

Wenn du unter deiner Einsamkeit leidest, könntest du dich mit anderen vernetzen, denen es ähnlich geht. Seit Oktober 2023 gibt es die von Chris Gust (@let.s.talk.mental) entwickelte App namens jumiwi, ein Safe Space, in dem sich hochsensible Menschen oder Menschen mit anderen psychischen Themen finden und austauschen können. Ich habe mit Chris unter anderem in meinem Podcast Hallo Angst gesprochen - auch über die App:

Hier der Link zur Podcastfolge mit Chris  

Hier der Link zur Webseite der App jumiwi

Hier kannst du dir die App herunterladen

Für ältere Menschen (ab 60) ist Silbernetz - Das Netzwerk gegen Einsamkeit im Alter eine Idee. Die kostenfreie Telefonnummer ist täglich von 8-22 Uhr erreichbar. Bei Silbernetz kann man anrufen, wenn man einfach reden möchte, das Netzwerk vermittelt aber auch Telefonfreundschaften und hilft einsamen Menschen, Anschluss in ihrer jeweiligen Umgebung zu finden.

Hier findest du weitere konkrete Tipps und Anregungen, wie du dich weniger einsam fühlen kannst - (Den Tipp “Unter Leute gehen” finde ich allerdings ehrlich gesagt absurd…fast so absurd, wie wenn man einem depressiven Menschen sagt, er solle doch mal positiv denken.)

SOS-Guide für den akuten Fall…

Du bekommst eine Panikattacke unter dem Weihnachtsbaum? Hast Angst vor der Zugfahrt nach Hause? Der Gedanke an ein festliches Essen im Kreis der Verwandten löst eine nicht enden wollende Angststpirale aus? Oder: Du fühlst dich so einsam und isoliert, dass du Suizidgedanken entwickelst?

  • Generell gilt: Wenn du dich in einer akuten Krise befindest, wende dich bitte an deinen behandelnden Arzt oder Psychotherapeuten, die nächste psychiatrische Klinik oder den Notarzt unter 112.

  • Telefonseelsorge 24 h 0800 - 1110111 oder 1110222

  • Mutruf (speziell für Menschen mit Angst und Panik), Mo-Do 10-18 Uhr, Fr 10-12 Uhr 04191-2749280

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Meine Playlist für dich: Diese Podcasts über Angst und Panik sind hilfreich und inspirierend

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#23 Hallo Angst: Wie du erkennst, ob du hochsensibel bist